Selva in Flammen 1949

Wörtliche Übersetzung aus der Wochenzeitung Gasetta Romontscha vom 15. Juni 1949, geschrieben vom Chefredaktor Dr. Sep Condrau

Wie viele Male haben wir, den Oberalppass überquerend, das liebliche Dorf von Selva am Fusse des Berges betrachtet: die einfachen Holzhäuser zusammengeschart um das Gotteshaus, dem Hl. Antonius gewidmet – wie viele Schafe rund um den guten Hirten. Und heute? Eine Ruine! In der Nacht vom 11./12. Juni 1949 – vom Samstag auf den Sonntag – ist das Dörflein Selva Opfer eines gewaltigen Feuers geworden. Die Kirche, 12 Häuser, davon 5 Doppelhäuser, und 20 Ställe sind nun Asche. Nur zwei neue Häuser, gebaut am Dorfeingang, sind gerettet. Die kleine Käserei unterhalb des Dorfes erinnert an Arbeit und Schaffen einer eifrigen und fleissigen bäuerlichen Bevölkerung. Zwei Kornhisten zuhinterst im Dorf zeugen, dass noch hier auf 1535 Meter über Meer Korn und Kartoffeln angebaut werden. Das Dorf selber ist eine Ruine. Kein einziges, ganzes Stück Holz ist übriggeblieben. Die gebleichten Blechdächer sind vom Feuer verwölbt, liegen zuunterst im Fundament der Gebäude und decken die Ruinen wie ein Leichentuch ab. Ein Dorf im Sarg! Welch Schmerz und Traurigkeit für die 90 Einwohner (davon 30 Kinder unter 15 Jahren), die alles innerhalb eineinhalb Stunden verloren haben. Grund genug zu helfen. Gemeinschaft gibt Kraft, von allen Seiten!   Feuer! Feuer! Es ist Samstag Abend. Die Einwohner von Selva, müde von der Arbeit, gehen frühzeitig zu Bett. Paul Benedetg Venzin, der Bruder von Pfarrer Venzin in Surcasti [Lugnez], ist kurzzeitig vor seinem Haus, schaut, wie sich das Wetter entwickelt und geht dann zu Bett. Die Kleinen schlafen bereits tief und fest. Plötzlich schreit seine Frau: „Schau einmal, diese Helligkeit!“ Venzin springt aus dem Bett, öffnet die Fensterläden und sieht die drei Ställe rund um sein Haus in Flammen. Bereits lecken die Flammen an den Wänden seines neuen Hauses. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als die 5 kleinen Kinder zu nehmen, der Kleinste ist 5 Monate, der Grösste 7 Jahre alt, um mit allen das Haus fluchtartig zu verlassen. Die Kinder sind im Schlafhemd, alle barfuss. Keine winzige Gelegenheit, irgendetwas zu retten. Währenddessen haben auch die anderen Bewohner das Feuer entdeckt. Die kleine Glocke der Antonius-Kapelle seufzt und schluchzt. Plötzlich ist das ganze Dorf auf den Beinen. Pfarrer Schuler, der kühne Pfarrer von Selva, springt zum Telefon, wählt den Notruf Nr. 18 und alarmiert den Feuerwehrkommandanten, als die Flammen bereits durch die Fenster dringen. Er kann noch seinen 88jährigen Vater, der mit ihm lebt, wecken und muss dann das Haus verlassen, um sein Leben zu retten. Gaudenz Loretz, der am Anfang des Dorfes wohnt, nimmt seinen „Jeep“ und eilt nach Rueras für die Spritze. Sein Haus ist noch ganz. Als er mit den Männern von Rueras und der Spritze zurückkehrt, ist es niedergebrannt. Er kann keinen Pickel und keine Schaufel retten. Das Feuer springt von Haus zu Haus. Die Flammen schleichen wie Schlangen durch die Ställe. Nur für einen kurzen Moment kann der Hydrant inmitten des Dorfes benutzt werden. Dann müssen die Bewohner alles liegen lassen und das Dorf verlassen. Innerhalb einer Viertelstunde – nicht mehr als eine halbe Stunde – brennt das ganze Dorf. Der Himmel errötet so, dass man es von Trun bis Realp sieht.   Die erste Hilfe Es mag wohl 10.00 Uhr gewesen sein – am Radio waren gerade die Nachrichten zu hören – als die Einwohner von Tschamut [oberhalb des Dorfes Selva] das Feuer entdecken. Die Wirtin des Hotels Rheinquelle alarmiert sofort die Feuerwehren von Andermatt und Disentis. Die Feuerwehr Disentis musste bereits in der vergangenen Nacht ein gewaltiges Feuer in Raveras [Dorfteil von Disentis] bekämpfen. Dort wurde ein Stall von Giusep Spescha und die Werkstatt von Conrad Werth zerstört. Der Feuerwehrkommandant Theodor Huonder zögert nicht lange, als er die schreckliche Nachricht hört. Er ruft das Pikett von Disentis und Trun und innerhalb einer Viertelstunde verlässt das Fahrzeug, verladen mit Mann, Schlauch und Material, das Dorf. Die Trunser – mit einer Motorspritze – fahren innerhalb von 45 Minuten von Trun nach Selva. [heute kein Problem, damals jedoch eine Herausforderung]. Unglücklicherweise fehlt die Motorspritze von Disentis. Seit dem Brand in Acladira-Trun vom 18/19. Dezember 1948 ist diese in Chur. Die Gebäudeversicherung, welche die Spritze vor 20 Jahren in Disentis platziert hatte, konnte sich noch nicht entscheiden, die defekte Spritze zu ersetzen oder reparieren zu lassen. Eine komische Sache, die nun zu Tage kommt, wenn die Katastrophe da ist! Zum Glück hatte Disentis gute Hydranten. Für die Weiler und die umliegenden Dörfer ist die Motorspritze ein absolutes Muss. Der Bahnhof Disentis organisiert sofort einen Sonderzug, um weitere Hilfe zu bringen. Die Feuerwehr Andermatt, die zum Teil aus Realp herangezogen werden musste, und die Militär-Feuerwehr eilen mit ihren 2 Motorspritzen zur Stelle. Bald sind die drei Motorspritzen am Rhein platziert und übernehmen die Arbeit der zwei Handspritzen aus Rueras und Sedrun. Die Leistung ist gewaltig und der Brandstelle wird Löschwasser im Überfluss zur Verfügung gestellt. Das Feuer hat sich orkanartig verbreitet und ist so gewaltig stark, dass man sich auf das Halten der noch bestehenden Gebäude beschränken muss. Aus der Kirche können das Allerheiligste, ein Kelch mit Hostien, weitere Kelche und Messgewänder, die Statue des Hl. Antonius und eine 300jährige Marienstatue, kürzlich renoviert, gerettet werden. Alles andere bleibt im Feuer. Die Bewohner können nichts retten. Zum Glück ist das Vieh auf dem Maiensäss und die Schafe auf der Alp. Die Haustiere {60 Ziegen und 12 Schweine), eine Anzahl Bienenhäuser mit 10 bis 12 Völkern, 80 Hühner werden verbrannt. In einem Stall findet man die Kadaver von 14 Ziegen, eins neben dem anderen. Das verbrannte Fleisch verbreitet einen unangenehmen Geruch. Während der ganzen Nacht wird mit Wasser und Pumpen gearbeitet. Was für ein Anblick am nächsten Morgen! Feuer und Rauch und Ruinen wo man hinschaut. Aus den Ruinen steigt noch während des ganzen Tages Rauch auf. Wir statten der Unglücksstelle einen kurzen Besuch ab. Man muss die Tränen springen lassen, wenn man die Bewohner auf ihren Ruinen stehen sieht. Sie haben alles Hab und Gut verloren.

Selva steht aus den Ruinen auf Die Nachricht des Unglückes von Selva geht durch die ganze Schweiz und weckt überall das Mitleid der ganzen Bevölkerung. Der Bundespräsident, Bundesrat Nobs, telegrafisch bereits am Sonntag Morgen informiert, zeigt sofort seine Sympathie und sein Mitleid. Eine Delegation des Kleinen Rates (Dr. Darms, Dr. Planta, Dr. Margadant) besuchen noch am gleichen Tag die Unglücksstelle. Radio-Zürich startet am gleichen Tag eine Hilfsaktion und bringt an diesem Abend einen mündlichen Bericht des Maturanden Max Jäger, Sohn von Oberst Jäger in Bern, der in Disentis studiert. Der Bundesrat beschliesst drei Sachen: 1. eine Spende von 10 000 Franken für die erste Hilfe zu geben. 2. Militärbaracken zur Verfügung zu stellen, um Leute und Frucht unterzubringen, je nachdem, was gebraucht wird. 3. Subventionen für den Aufbau der Häuser zur Verfügung zu stellen. Das Rote Kreuz möchte Decken und Bettwäsche zur Verfügung stellen. Die Firma Sandoz AG in Basel, eine der wichtigsten Chemiefirmen, schickt 10000 Franken. Die C.K.W. in Luzern gibt 3000 Franken. Die 15 Jubilare der Firma Bally, die zufällig an diesem Abend im „Krone“ in Sedrun weilen, organisieren eine Spende und übergeben den Verunglückten eine schöne Summe. Auch das Kloster Disentis übergibt eine schöne Spende von 1000 Franken. Die Caritas-Zentrale (Luzern) schickt 1000 Franken. Die Tuchfabrik Truns schenkt Decken und Kleidung. Die Schweizerische evangelische Union schickt ein Fahrzeug voll mit Waren. Aus Nah und Fern kommen Fahrzeuge mit Waren und Nahrungsmitteln. Die Schweizerische Post erlaubt freie Warensendungen bis 15 kg. Spenden in Geld können auf das Postcheque-Conto X 150 Hilfsaktion für Selva überwiesen werden. Die Bahn transportiert konstenlos Waren, die dem Hilfskomitee in Sedrun adressiert sind. Das Hilfskomitee, das sich ohne Verzögerung gebildet hat, besteht aus dem Gemeindevorstand Tujetsch, dem Pfarrer in Sedrun, Pfr. Giusep Durschei, und dem Kaplan von Selva, Pfarrer Schuler. Das Dorf Selva wurde bereits mehrmals Opfer verschiedenster Unglücke. 1785 ist das Dorf bereits einmal abgebrannt, 1808 wurde es durch eine Lawine begraben. Immer wieder wurde es aufgebaut. Auch dieses Mal muss das Dorf von Selva wieder auferstehen, mit Gottes Hilfe und der Hilfe guter Menschen. Jeder helfe nach seinen Kräften!

Anmerkungen: Der Dorfbrand von Selva hat eine wahre Spendenwelle in der ganzen Schweiz ausgelöst. Tonnen Hilfsgüter wurden nach Sedrun/Selva transportiert und das Hilfskomitee stiess sehr schnell an seine Grenzen. Vorwürfe, dass die Waren nicht rechtmässig verteilt wurden, kamen auf. Aus dem guten Gedanken, Hilfe zu leisten, entstand sehr schnell Zwietracht und Eifersucht. Heute ist Selva wieder aufgebaut. Nur zwei Bewohner leben dort ganzjährig. Ansonsten sind Häuser und auch viele Ställe zu Ferienwohnungen umfunktioniert. Im Sommer wird Golf gespielt, im Winter ist das Dorf fast ausgestorben. Die Feuerwehr Sursassiala versorgt das Gebiet. Je nach Wettersituation kann es noch heute schwierig sein, das Dorf zu erreichen.   Die untenstehenden Bilder wurden uns freundlicherweise von der Gemeinde Tujetsch (©) zur Verfügung gestellt. Weiterführende Infos (in Romanischer Sprache) sind hier abrufbar. Originaldokumente nach dem Brand sind auf dieser Seite zu finden.